Roland Reuß

Über das Kulturradio der Zukunft

Kulturfunk ist Qualitätsfunk. Von Roland Reuß: Aristoteles hat an einer berühmten Stelle seiner »Poetik« die Einsicht formuliert, der Mensch zeichne sich vor anderen Lebewesen durch die stark ausgeprägte Fähigkeit aus, daß er durch Nachahmung lerne. Daß er lernen wolle, war für Aristoteles eine unverrückbare anthropologische Konstante. »Kulturfunk« hat auf beides immer schon Rücksicht genommen. Er vermittelt dem Hörer etwas, das dieser neugierig und mit Freude vielleicht nur hier so eindringlich und spielerisch lernen kann: den Respekt vor einem kulturellen Anspruch überhaupt. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich zu einer Beschäftigung mit und einem Vergnügen an klassischer Musik (die ich als pubertierender Jugendlicher zunächst nicht ausstehen konnte) dadurch kam, daß ich an einem bestimmten Tag durch Zufall Tschaikowskis sechste Symphonie in voller Länge hörte. Ich kannte sie zuvor nur in einer Schrumpelversion der Gruppe ›Nice‹. Und ich erinnere mich auch noch sehr gut daran, als ich das erste Mal eine Analyse der Beethoven-Klaviersonate op. 111 von Jürgen Uhde im damaligen Südwestfunk hörte. Klänge und Stimmen in der Nacht. Profane Erleuchtungen. Ich habe zunächst nur wenig verstanden, aber soviel doch, daß hier etwas mit einer Selbstverständlichkeit und in einem großzügigen, Atem und das heißt Reflexion erlaubenden Zeitrahmen (die ›Pathetique‹ ist lang, die Uhdeschen Sendungen dauerten eine Stunde) mitgeteilt wurde, das mich zwanglos bezwingend aufforderte, mich zu ihm in ein persönliches Verhältnis zu setzen – intensiver hören, genauer verstehen, allgemeiner und zugleich individueller wissen zu wollen. Kultur kommt vom lateinschen Wort colere, pflegen, und der Rundfunk pflegte diese spezifisch menschlichen Triebe geistiger Neugier auf eine intensive und nachhaltige Weise. Gerade dadurch, daß hier überhaupt keine Anbiederung stattfand, fühlte ich mich als Heranwachsender ernstgenommen. ›Komm’‹, hörte ich aus allem heraus, ›habe Mut und Geduld, nimm die Herausforderung an‹. Es war die Selbstverständlichkeit, mit der im Radio über komplexe Sachverhalte öffentlich gesprochen wurde, ohne Unterbrechung durch Nachrichten oder Verkehrsmeldungen, mit langem Atem und vor allem: der Sache hingegeben. Die Selbstverständlichkeit, mit der epische, oft auch komplexe Spannungsbögen von Musik gesendet wurden – ohne daß im Sender jemand Angst hatte, die Zuhörer zu ›überfordern‹. Ihr zur Seite trat das Vergnügen an Hörspielen von Günter Eich, von Samuel Beckett, das kühne Experimentieren mit den technischen Möglichkeiten des Studios und der Sprache, das hier, in der Öffentlichkeit des Rundfunks, möglich war – ohne daß darauf geschielt wurde, ob alle klatschen. Provokationen wohl, aber Provokationen einer sensiblen Art, die mich als Hörer in Bewegung brachten, im Wortsinn: motivierten, mich in den geistigen Zusammenhang dessen, was man Kultur nennt, ohne Angst hineinzubegeben. Will man es auf einen Punkt bringen, worauf es beim Kulturradio damals wie heute ankommt, wird man die konzessionslose Pflege des Anspruchs nennen müssen, den die Gebilde der Musik und der Literatur, der Sprache überhaupt, an jeden erheben, der sich zu ihnen ins Verhältnis setzt. Man sollte genau das, den Respekt vor diesem Anspruch, im Radio lernen können. Indem es die von Aristoteles beschriebene Fähigkeit der Mimesis auf diese buchstäblich anspruchsvolle Verhaltensweise lenkt, etabliert sich ganz von allein, ›on the air‹, ein kultureller Schwingungsraum. Das schließt Unterhaltung nicht aus, wohl aber die Beförderung von Zerstreuung. Nichts ist unterhaltsamer, als das durch konzentriertes Zuhören vermittelte Erkennen- und Schätzenlernen von Qualität, in der Musik, in der Literatur, und damit einhergehend die Schulung der eigenen Urteilskraft. Mir ist schmerzhaft bewußt, daß dieses Konzept von Kulturfunk in merklichem Kontrast zur Gegenwart heutiger Radiopraxis steht. Dem Geist der Werke unangemessen ist etwa die zunehmend häufiger zu beobachtende Zerstückelung musikalischer Kompositionen. Isolierte Sätze einer Symphonie zu senden, ist zwar manchmal unvermeidlich, als Standard gesetzt hat es etwas Barbarisches. Auch sollte nicht der Unart der Unterhaltungsprogramme gefolgt werden, in Musik hineinzureden. Erzwungen scheinen diese Barbarismen durch das Vordringen der sogenannten Magazinierung. Diese kurzatmigen ›Formate‹ treten bedauerlicherweise immer mehr an die Stelle längerer, in die Tiefe und nicht in die Breite gehender Wort- und Musiksendungen. Parallel dazu verdrängen Radio-Krimis qualitativ hochwertige Hörspiele. Das Kulturradio hat in solchen ›Formaten‹ offenbar vergessen, was es ist. Keineswegs ist es Fernsehen zweiten Ranges. Es ist etwas sui generis, mit einem Anspruch, der nicht preisgegeben werden darf, wenn es eine Zukunft haben soll. Das Niveau auf diesen Anspruch hin einmal anzuheben, nicht immer wieder abzusenken – das wäre der mutige und allein notwendige Schritt, der jedem nicht auf kommerzielle Erlöse angewiesenen Sender ein gestärktes Profil verliehe. Die Hörer werden auf diesem Weg ganz von allein folgen. Sie sind wissensdurstig und bildungshungrig wie eh und je. ›Kommt, habt Mut und Geduld, nehmt die Herausforderung an‹, das ist die Losung von Kulturfunk.

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