Peter Sloterdijk

Notizen zur Philosophie des Radios

Ausschnitt aus einem Vortrag bei den ARD-Hörspieltagen 2010. Peter Sloterdijk: Es geht zuletzt immer darum, den Hörer nicht vorauszusetzen, sondern den Hörer als Hörenden zu evozieren. Der Imperialismus freilich in all seinen Spielarten setzte immer schon Ohren voraus, um sie auszubeuten und zu kommandieren. Er zerstört und verbraucht immerzu mehr Hörkraft als er selbst hervorruft; er beschädigt das Gehör durch zu laute, zu starke, zu gewaltsame Sendungen. (....) Das moderne Europa ist weder als Großkirche noch als ein einziges sakrales monarchisches Imperium verfaßt, wie der mittelalterliche Idealtypus es intendierte, sondern als bürgerlicher Imperienpluralismus -; dessen Subjekte oder Agenten sind die kapitalistischen Nationalstaaten. Für die ist es typisch, daß sie nur im Modus progressiver Mobilmachung existieren können - wobei ich diesen Ausdruck doppel-sinnig verwende, militärisch sowohl als auch, um die allgemeine Zivilisationsdynamik zu charakterisieren. (...) Die Funkmedien sind nun das technikevolutionär unvermeidliche Mittel zur Synchronisation der Aktionen von mobilisierenden Gesellschaften - und zwar im Krieg wie im Frieden; manche Radiohistoriker haben zu Recht auf den Ersten Weltkrieg als Generalprobe des natio¬nalen Unterhaltungsrundfunks hingewiesen; einige behandeln die militärischen Entwicklungen der Radiotechnik noch immer als den harten Kern, gleichsam die Wahrheit der Sache selbst, Stichwort: Übergang von Luftüberlegenheit zu Herrschaft über das elektromagnetische Spektrum. Immerhin, in der mobilisierenden Gesellschaft, wo es gilt fünfzig oder hundert Millionen Menschen zu synchronisieren, sind Funkmedien die einzigen Instrumente, die schnell und diskret genug die informatische Massenregie leisten können. Sie zeigen an, welche blockierten Straßen zu meiden sind, sie sagen, welche Marke von Weißem Rum das Leben verklärt, sie berichten, was der Innenminister auf einer Pressekonferenz zum Besten gab, und über weite Strecken senden sie die Musik, die der Entwarnung dient. Mit all diesen Botschaften stehen typische Radioprogramme im Dienst an einer doppelten Aufgabe: als informierende Medien leisten sie einen Beitrag zur Massensteuerung; als formierende Medien erzeugen sie semiosphärischer Kohärenz in Großgesell-schaften - man könnte auch sagen, sie schaffen das Tuning für nationalkulturelle Massenzivilisationen - letzteres natürlich im Medienverbund mit der Pflichtschule, mit dem Kino, mit der Massenpresse. Aber in beidem, dem formierenden wie dem informierenden Teil, bilden herkömmliche Funkmedien nur die Gedanken, die Ereignisse und die Musik einer mobilisierten Gesellschaft ab. Sie sind auch in diesem Sinn analoge Medien - sofern sie in ihren Sendungen eher wiedergeben, was vor ihnen schon als sendbarer Stoff da war, als daß sie vorgäben, was erst durch sie sendbar wird. Mit dem Übergang zur Digitaltechnologie wird ein latenter Zug der Radiokultur zu unerhörten Sendungen auch für die allgemeine Wahrnehmung freigesetzt. Man darf behaupten, daß die Avantgarde unter den Hörspiel-Machern dies schon seit längerem gewußt hatte; manche Autoren und Sendeleiter haben schon früh begriffen, daß ihr Medium mehr in sich birgt als die Möglichkeit, Theater und Kurkonzert durchs Telefon zu schicken; sie erkannten, daß sich in ihrer prekären Kunstgattung Ausblicke in ein Universum vorbildloser Lautereignisse eröffnen. Schon mit von heute aus gesehen so bescheidenen Instrumenten wie Tonband und Mikrophon begann in der akustischen Hexenküche der Hörspielredaktionen etwas, das heute nicht länger übersehen und überhört werden kann: die Mobilmachung der Effekte. Wenn man mit der Deutung des Phä¬nomens hoch greifen will, wird man geradewegs von einer neuen Epoche der Geschichte akustischer Evokationen des Men¬schen sprechen - es beginnt in der Tat, vor unseren Augen und in unserer Generation, ein Großangriff von technogenetischen Lautereignissen auf das Ohr des alten homo sapiens. Die Digital-Radiologie bringt nun selbst eine unverhohlene Offensive der akustischen Mobilmachung potentiell in jedes Studio und jede Wohnung. Sie bildet nicht mehr nur, wie das Analog-Radio, die Lebens-, Denk-und Sprachspiele einer mobilisierenden Gesellschaft draußen vor dem Studio ab. Mit der digitalen Wundertechnik wird das Senden selbst zu einer Praxis des Unerhörten. Ich weiß nicht, wieviele Tasten zu drücken sind, aber es ist sicher, daß nach einigen Operationen am akustischen Computer die Stimme von Adolf Hitler die Bergpredigt rezitieren wird, ein Chor von Schakalstimmen heult die achte Duineser Elegie, eine Steelband trommelt die Neunte Symphonie; ein Zeitalter der Mischung ohne Grenzen beginnt, Völker-wanderungen von akustischen Mestizen strömen durch die Lautsprecher in die Wohnzimmer der Festung Erste Welt, Töne aus fernen sonoren Galaxien suchen die neue Menschheit chronisch heim. Eine alien-Invasion durch die Ohren hat begonnen. Ich will dies nicht ausmalen. Es geht jetzt, wie mir scheint, um nicht weniger als um das Ohr im Zeitalter posthumaner Evokationen.

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