Ist das noch Radio?

Ein Essay von Nathalie Wappler Hagen

Seit Ende August dieses Jahres hat die European Broadcasting Union (EBU), der Zusammenschluss aller öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Europas, eine neue und ungewöhnliche Aufgabe übernommen. Sie wird für den europäischen Raum eine neue Top Level-Domain" namens "Punkt-Radio" (".radio") vergeben. Eine Top Level Domain ist das, was man bei einer Adresse im World Wide Web hinter dem eigentlichen Seitennamen findet, also zum Beispiel "ARD-Punkt-De". "Punkt-De" steht hier für die Länderkennung Deutschland. In der Zukunft könnte es also heißen: ARD-Punkt-Radio.   Für die neue Top Level Domain interessieren sich geschätzte 65.000 terrestrische Radiostationen und weitere gut 60.000 Webradios rund um den Globus. Dazu kommen noch unzählige Funkamateure und Allein-Radiomacher. Alain Artero, der zuständige Manager bei der EBU, spricht von einer "Schlüsselphase für die Radio-Community". Ein großes Wort. Aber durchaus: Weit über 100.000 Anbieter, von denen vermutlich die Mehrheit keine traditionellen Radiostationen sind, werden unter der neuen Domain anbieten, was in Zukunft die Gattung "Radio" repräsentieren wird.   Aber wichtiger noch: Sie werden unsere Gewohnheit, "Radio" zu hören, grundlegend verändern. Wie man jetzt schon erkennen kann: Streaming-Dienste wie Spotify, Tidal oder Idagio bieten wie die meisten Web-Channels im Netz ganz und gar auf das individuelle Profil des Nutzers und der Nutzerin zugeschnittene, personalisierte Angebote in Form von Musiklisten und Podcasts aller Art. Diese Portale bilden die Basis für das, was dann die weiteren Assistenz-Systeme wie "Siri", "Alexa" und "Cortana" (oder welche weiblichen Vornamen Entwicklern noch einfallen werden) in unseren Wohnzimmern auf Zuruf einschalten, abschalten und umschalten.   Eins ist damit allerdings auch klar: Die Linearität des Radios stirbt nicht aus! Wer immer behaupten mag, das Zeitalter der ununterbrochenen Umgebungs-Playlist-Musik sei vorbei, muss sich angesichts des Musik-Streaming-Booms eines Besseren belehren lassen. Wenn ich meine individualisierte Streaming-Playlist abspiele, so ist das immer noch eine "Musik-Tapete", wenngleich kein Radio-Programmschema mehr, wie wir es heute kennen, das durch Redaktionen im Team mittels Aushandlungs- und Themensetzungsprozessen zustande gekommen ist.   Es gibt weltweit Zehntausende Radiostationen, die durch Aggregatoren und neue Systemtechnologien wie Sonos oder Urbanears abrufbar sind. Das Begleitmedium, das Nebenbei-Medium Audio bleibt erhalten wie auch das Musikradio, aber es bekommt eine neue Wendung. Begleitung heißt jetzt: Aktiv "mithören", die Daten des zu Begleitenden ausspähen, auswerten, neu kombinieren und ihm das Ergebnis noch personalisierter anbieten. Nur, wer oder was hier mithört, rekombiniert und mir als Neuigkeit anbietet, das ist ein Computer-Algorithmus, eine komplexe, statistische Rechenformel. Der Computer errechnet aus dem, was ich gewählt habe, für die Zukunft, was mir gefallen wird.   Begleitung also, perfekt auf meinen Leib zugeschnitten. Kosten? Ich zahle zweimal: Einmal mit meinen Daten und ein Premium-Abo dazu. Das ist das Neue an der neuen Linearität der Streaming-Dienste: Aufgrund meiner gewählten Playlist-Präferenzen ermitteln die assistentiellen "Punkt-Radio"-Systeme, ob ich lieber Schubert oder Tom Petty höre oder, noch allgemeiner, lieber dem Einschaltimpuls Wort als dem der Musik folge. Dazwischenrufen, dass ich mal eben schnell "Nachrichten" hören will, wird sicher irgendwie möglich sein. Oder es fällt uns gerade ein Programm-Name aus der alten Radio-Welt wie SWR 3 ein, den wir abrufen lassen. Auch sein "Profil" mag man leicht zum Teil eines Algorithmus machen.   Wenn alles das die "Punkt-Radio"-Zukunft ist, wie werden wir dann aber noch unterscheiden können, ob sich hinter dem, was wir hören, ein algorithmisierter Musikstream verbirgt oder unsere handgemachte "originale" Podcastliste? Oder werden wir ohnehin längst erwarten, dass sich beides mischt, wenn wir Alexa zurufen: "Spiel Radio!"? Alexa spielt dann "mein" Radio, sogar eines mit kleinen Überraschungseffekten, ganz individuell. Wenn es so kommt: Haben wir dann nicht damit den absoluten Gegensatz zu früher erreicht, als das alte Massenmedium Radio dadurch definiert war, dass "die Masse", also alle, das Gleiche hörten?   Halten wir noch einmal fest: Vor allem, was die Musik betrifft, wird die "Punkt-Radio"-Zukunft "prädikativ" sein. Sie arbeitet mit statistischen Algorithmen, die die Hörpräferenz von gestern in Vorschläge für morgen verwandelt. Allerdings, gute Radiomacher in exzellenten Playlist-Redaktionen konnten und können das, ohne Statistik, auf ihre Weise auch, und vielleicht sogar besser. Radioprogramme - nehmen wir SWR 3 oder MDR-Jump - mit hohen Hörerbindungswerten waren nämlich immer schon so etwas wie "mein" Radio. Ihnen half und hilft dabei ein gutes "Burn-Out" und "Call-In"-Management, sprich: regelmäßige Befragungen der Stammhörerschaft, ob sie ein Musikstück noch hören will und welches neue ihr gefällt.   Die erfolgreichen Massenwellen der ARD beweisen, dass dieses Vorhersage-Verfahren sehr gut geht. Ihre Reichweiten erfahren keinen Abbruch, hier ist der Generationenabriss viel geringer als in anderen Medien, wie etwa der Tageszeitung. Und: Es entsteht eine "Community", eine Gemeinschaft der Gleichgesinnten, etwas, das speziell für das Pop-Radio immer schon wichtig war, seit den Zeiten der Piratenstationen auf hoher See bis hin zu den ARD-Jugendradios von heute: "Dein Sputnik Moment!" und "Alles Fritzen", so heißen hier einige Slogans.   Was "Punkt-Radio"-Streaming-Dienste machen, ist eine statistische Individualisierung der Playlist-Erstellung. Community - also, was meine Freunde hören - wird über "Like"- und "Sharing"-Prozeduren eingebaut. Ja, wir tauschen vielleicht auch unsere Playlisten aus, aber binden uns nicht mehr an die gleiche Playlist. Die meisten der zahllosen neuen Web-Radios sind ohnehin mit Streaming-Diensten verkoppelt und erlauben eine individuelle Titelliste nur, wenn ich auf auf Spotify oder iTunes klicke, wenn also ein Abo-Vertrag oder ein Einzelkauf abgeschlossen wird. Mit einem Wort: Diese vielen zehntausend Web-Radios gibt es vor allem deshalb, um den großen Streaming-Providern "Leads", also Neu-Kunden, zuzuführen. Neben der Ad-Werbung auf den entsprechenden Seiten sind diese "Leads" das Geschäftsmodell.   Zwei Kernfragen bleiben also beim "Punkt-Radio"-Streaming ungeklärt: Erstens die Frage nach der sogenannten Serendipität, also nach der zufälligen Entdeckung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem. So etwas können selbst die besten prädikativen Algorithmen nicht liefern. Menschen, ausgebildete, redaktionserfahrene, kompetente Kolleginnen und Kollegen aber sehr wohl! Zweitens die Frage nach der Prozedur, wie in "Punkt-Radio" Community zustande kommt, die Erfahrung, mit Gleichgesinnten in Gemeinschaft zu sein. Werden elektronische Like- und Sharing-Communities die gewachsenen Radio-Kommunitäten von eingeschworenen Programmfans ersetzen? Da habe ich meine Zweifel.   Eine Goldmedia-Studie aus dem vergangenen Jahr hat gezeigt, dass die Streaming-Nutzung an der Gesamtzeit des Musikhörens in Deutschland einen Anteil von 23 Prozent hat, das Radiohören weiterhin aber 42 Prozent. Wer kann vorhersagen, ob nicht beide Formen des linearen Audio-Musik-Stroms am Ende gleichermaßen koexistieren oder sich sogar ergänzen werden?   In Zukunft wird die Differenzierung vielleicht weniger nach dem Einschaltimpuls Wort oder Musik gestaltet sein, sondern nach aktivem Hören einerseits, gegenüber beiläufigem oder "Nebenbei"-Hören andererseits. Während sich bei Letzterem in der Nutzungsform wenig ändert, außer, dass die lineare Musik-Playlist auf eigenem Verhalten basiert, wird das neue "Punkt-Radio"-System vor allem denen entgegen kommen, deren Radiokonsum nicht allein auf beiläufiges Hören ausgerichtet ist. Formate wie Hörspiel und Feature hört man genau, aufmerksam und aktiv, auf dem Sofa oder beim Bügeln, Aufräumen, Joggen und Reisen.   Diese Formen haben heute schon regen Abruf als Podcasts oder in Media- und Audiotheken der Sender. Es sind und bleiben Radio-Formate klassischer Prägung, aber so wenig ihre Produktionsweise je live und linear war, wird es jetzt ihre Nutzung immer weniger sein. Sie werden "meta-linear" rezipiert, möglicherweise abnehmend an ihren angestammten Sendeorten im linearen Programm, dafür aber zunehmend an allen möglichen Orten zu beliebiger Zeit. Ich denke, "Punkt Radio" wird ihnen sogar mehr Hörerinnen und Hörer zuführen - vorausgesetzt, alle Verhandlungen mit den Urheberrechts-Inhabern verlaufen positiv.   Journalistisch aufbereitete Musiksendungen, die länger dauern als 20 Minuten, haben es hingegen derzeit noch schwer, als Audio-On-Demand oder Podcast zu zirkulieren. Noch reichen die Verträge der öffentlich-rechtlichen Radioanstalten mit der Gema und den Verlagen in der Regel nicht aus, die Musik, die hier gespielt wird, eins zu eins im Netz wiederzugeben. Können wir moderierte Musiksendungen wie das klassische "Special" über Tom Petty eins zu eins in Netz stellen? Leider nein! Sendungen, in denen Musik eine aktivere Rolle zukommt als bloß gestreamt zu werden, sind derzeit nur linear zu hören.   Im Netz aber fehlt aus meiner Sicht genau diese vielleicht sogar wichtigste Radio-Kulturtechnik: Hat Spotify intelligente Moderatorinnen, die mir meine Playlist nahebringen und zur Musik wirklich etwas zu sagen haben? Können Tidal oder Idagio mir erklären, warum das Carmina Quartett Schuberts G-Dur Streichquartett so viel besser spielt als das Amadeus-Quartett? Wenn das nicht mehr vermittelbar ist, bleibt ein wesentliches Stück Radiokultur auf die Linearität des terrestrischen Radioprogramms beschränkt und geht in der Zukunft-Punkt-Radio verloren. Wir vom gemeinsamen öffentlichen Radio, das allen gehört, arbeiten daran, dass diese Qualität auch im Netz erhalten bleiben wird.