Geert Lovink

Das Radio nach dem Radio

Von Piraten zu Internet-Experimenten. Von Geert Lovink: Was ist Radio im Internet-Zeitalter? Bestimmt der interaktive Live-Charakter des Streamings das Online-Hörerlebnis? Es geht nicht mehr um die Übermittlung von Radioinhalten durch das Kabel statt über den Äther, sondern vielmehr um die Frage, ob das massenhaft über das Netz verbreitete Audiomaterial überhaupt als ‚Radio’ bezeichnet werden kann. Wird es ‚Radio’ in ein paar Jahrzehnten als Medium noch geben? Einige von uns haben einen emotionalen und nostalgischen Bezug zum Radio als Format der Inhaltsvermittlung, aber spielt das eine Rolle? Wäre es vielleicht besser, das Wort ‚Radio’ in ‚soziale Hörerfahrung’ umzudeuten? Warum sich die Zukunft des Radios nicht analog zu Skype als peer-to-peer Austausch von Audios vorstellen? Oder als eine gigantische, gemeinsam genutzte Welt, die auf Empfehlungen und Gerüchten über das Neueste und Coolste beruht. Oder ist Radio etwa per Definition ein ‚one-to many’ Kanal? Wenn wir Brechts Radiotheorie lesen und frühe Experimente mit Zweiweg-Systemen berücksichtigen, sicher nicht. Es hat immer Rückantworten und Phone-Ins gegeben. Bereits vorhandene Signale lediglich über andere Kanäle zu verbreiten, kann die Phantasie nicht beflügeln. Mediale Umlenkung ist eine Sackgasse. Künstler und Freaks, die Internet-Radio als einen wechselseitigen Prozess sehen, sind weniger an der Echtzeit-Wirkung von Twitter oder Facebook interessiert, sondern konzentrieren sich eher auf den Aspekt der dehnbaren Zeit dieses sphärischen Mediums. Was bedeutet es, dass wir nun als Einzelindividuen von einer Klanglandschaft zur nächsten surfen? Das Radio braucht keine neuen Freunde, es braucht neue soziale Strukturen, in denen die kommenden Radionauten frei senden können. Aber was ist das Radio nach dem Radio? Heute kann jeder Podcasts produzieren und fast ohne Budget mit seinem eigenen Webradio beginnen. Um jedoch eine Gemeinschaft zu bilden, braucht man Treffpunkte wie ein Studio, ein Büro oder Café. Die frühere Radiomacherin und Netzkunst-Kritikerin Josephine Bosma stimmt zu: „Als Proeflokaal Marconi, das spätere Tesla, zumachte, verschwand mit ihm auch ein Treffpunkt für die Macher und Zuhörer des freien Radios, ein Ort, der eine Verbindung schuf. Plötzlich war das Radio wieder unsichtbar geworden und hatte keine direkte Verbindung zum Publikum mehr. Als das Rundfunk-Kabel zum Standard wurde, noch vor Internet-Radio und MP3, vergaßen die Leute, wie man einen Sender im Äther findet. Für den Durchschnittsbürger ist es schwer zu begreifen, dass das Kabel oder die Digitalisierung eine völlig andere Medienlandschaft hervorbringen. Ohne das Verschwinden der physischen Verbindung zum Publikum hätten die technischen Veränderungen die Situation nicht so drastisch beeinflusst.“ Die Freie Radio-Szene ist von Natur aus nicht sehr nostalgisch. Wir produzieren alle für das Universale Archiv. Trotzdem ist es nicht zu übersehen, dass die Leidenschaft des wilden live Mixens und ins Leere Quasselns im verschwindenden freien Äther sich nun auf die überwältigenden globalen Distributionsmöglichkeiten des Internets und seine begleitenden sozialen Vernetzungsrituale verlagert hat. Die freie Amsterdamer Radioszene war 1989 eine radikal lokale Angelegenheit: ein einseitiges Geschenk an die Einwohner der Stadt im Geiste Jean Baudrillards, ohne irgendetwas zurück zu erwarten. Goldene Klänge für das große Nichts, das niemand direkt bestellt hat. Was übrig bleibt, ist ein Karton mit Audio-Kassetten und ein Ordner mit digitalen Dateien. Dieses Resultat macht nichts, denn Radio ist ein vergängliches, transitorisches Medium. Josephine Bosma: „Was ist geblieben? Infolge des Aufstiegs der digitalen Medien ist das Radio zu einer stärker individuellen Erfahrung geworden. Ich verwende bewusst nicht das Wort fragmentarisch, da ich es für zu negativ halte und zu sehr orientiert an traditionellen Machtstrukturen und dem Kampf gegen sie. In der Amsterdamer Szene war Radiomachen immer sehr individualistisch und liberal. Der Grund, weshalb ich nicht von einer fragmentarischen Erfahrung reden möchte ist, dass es für mich beim Radio nicht darum geht, mit der eigenen Stimme jeden zu erreichen oder große Massen zu mobilisieren. Es geht um eine ‚Medien-Landschaft’, die eine Vielförmigkeit beinhaltet – und bewahrt. In dieser Hinsicht hat sich nichts geändert. Das Publikum ist heute nicht größer, sondern verstreuter. Wir müssen nur darauf achten, dass es dabeibleibt, und auch, dass neue ‚Radiomacher’ und ‚Hörerschaften’ nachwachsen.“ Für Bosma war Radiomachen, ähnlich wie Kunst, eher expressiv als kommunikativ. Anders liegt der Fall bei Radio De Vrije Keyser, das von politischen Aktivisten betriebenen wird . Dazu schreibt der Insider Mauzz: „De Vrije Keyser war vor allem eine alternative Informationsquelle für Aktivisten und die Hausbesetzerbewegung. Diese Arbeit wurde im Internet von Websites wie squat.net, kraken-post.nl, kraakforum.tk und besonders Indymedia.nl weitergeführt.“ Es gibt also noch ein Publikum, aber es ist jetzt über die ganze Welt verstreut und zu einem Nischenpublikum geworden. Es entwickelt sich nicht um eine Technologie herum, die immer wieder angepasst werden kann. In früheren Zeiten der Sendeverbote gab es die Kassette, die von einem zum anderen weitergegeben wurde (das heutige Pendant sind Podcast- und MP3-Sammlungen auf einem USB-Stick). Aber während massenhaft freier Speicherplatz vorhanden ist, fehlt heute die Community. Bosma schlägt vor, sich dieses Problems anzunehmen. „Große Treffen, aufregende Veranstaltungen, Radiomachen als Teil des Lehrplans, all das ist möglich. Aber es kann nur dann erfolgreich sein, wenn es auch wirklich inspirierend ist. Wir brauchen eine neue Radiophilosophie. Ich habe nicht die Absicht, Radio nur um seiner selbst willen, isoliert von den anderen Medien, zu propagieren. Das ist wirklich überholt.“ In einer Zeit, in der die sozialen Bewegungen schwächer werden, immer weniger demonstriert wird und eine Verschiebung auf virtuelle Organisationsformen stattfindet, hat das Radio, das nun schon als ein ‚kleineres Medium’ gilt, Mühe, sich neu zu erfinden. Die Leute sitzen nicht mehr auf der Couch um Radio zu hören oder Fernsehen zu gucken; sie twittern und multitasken. Die Medien sind mobil und ständig miteinander verbunden. Dieser neuen Situation muss man Rechnung tragen, wenn man eine aktive Gemeinschaft von Radiomachern und Hörern entwickeln will. Laut Anja Kanngieser, der in London lebenden australischen Radio-Forscherin und Produzentin, muss eine Radiophilosophie neu über Radiogeographien nachdenken, über das Verhältnis von Räumen und Orten, an denen Radio gemacht wird. „Wie wir es machen, mit wem und auch die entstehenden neuen Klanggeographien haben damit zu tun, wie und wo wir hören. Dies bedeutet eine neue politische wie soziale Ausrichtung, denn es hinterfragt unsere Vorstellung von Radio als eines kommunikativen und affektiven Mediums. Es ist auch eine Neuausrichtung der Schnittpunkte zwischen den Imaginationen und Wünschen, die um das Radio als Form kreisen, und den materiellen Technologien und Organisationsformen des Sendens, Streamens und Podcastens nötig, Schnittpunkte, die für das Verständnis der Auf und Abs des Radiomachens entscheidend sind.“ Mauzz hat eine Nische entdeckt, in der das Radio einen Neubeginn starten kann: die 3D-Internet-Umgebung Second Life. „Personen und Szenen, von denen ich es nie erwartet hätte, sind begeistert dabei, live MP3-Streams von ihrem Haus, Café oder ihrer Party aus an eine Gruppe von Leuten zu streamen und zu senden, die einen virtuellen Raum in Second Life teilen. Jeder Bereich in Second Life kann seinen eigenen MP3-Stream haben. Außerdem kann man virtuelle ‚Radio Player’ kaufen, auf denen sich die zahllosen Radiosender hören und die persönlichen Lieblingssender speichern lassen. Es gibt sogar kostenfreie Open Source Radioempfänger, und die User bringen sich gegenseitig das Radio-Streamen bei. Der Live-Aspekt ist von entscheidender Bedeutung. Es geht um das gemeinsame Erlebnis und die Interaktion zwischen Zuhörern, DJs und anderen Radiomachern. Die Interaktion in Second Life ist dabei nicht nur verbal, sondern auch nonverbal und visuell.“ Second Life ist ebenso eine Plattform für Aktivisten wie die ‚Second Life Left Unity’, deren virtuelle Veranstaltungen auf Weltprobleme aufmerksam machen. Während des gut besuchten virtuellen Marathon-Festivals ‚Teknival’ legten die DJs 66 Stunden lang auf sechs verschiedenen Bühnen alternativen Techno auf und nutzten die Veranstaltung gleichzeitig, um auf das Palästina-Problem aufmerksam zu machen. Alle diese Aktivitäten sind nicht nur eine Weiterentwicklung des Mediums Radio. Solche Bottom-Up-Technopolitiken verdanken sich auch den Entwicklungen im Bereich Hardware, Software, Bandbreite und dem dramatischen Fall der Telefon- und Internet-Tarife, die uns den Schritt von der Ära des Audio-Mixens in die Ära des Media-Mixens erlauben. Für Jo van der Spek ist Radio letzten Endes alles, was man mit Audio in einer Live-Situation macht. Radio lädt zu unvermuteten Störungen im gewohnten Fluss von Musik und Information ein. Überraschenderweise sind einige technische Crossover noch unerforscht, insbesondere die Nutzung von Skype und anderen freien online-Telefondiensten. Mit Skype als freiem Dienst könnten Hörer eigene Programmbeiträge liefern. Man könnte ein Netzwerk von Skype-Korrespondenten aufbauen und weltweite Konferenzschaltungen zwischen vier oder fünf verschieden Orten machen, eine Konstellation, die sich am ehesten als many-to-many Mikroradio beschreiben ließe. Dieses Signal kann dann als Live-Stream verbreitet werden oder auch klassisch über den Äther. Wenige wissen, dass der Audio-Dienst von Linden Lab (dem Second Life Betreiber) der zweitgrößte seiner Art ist. Es ist auch Zeit, unsere Vorstellung von kollektiver Telephonie zu aktualisieren. Smartphones können auch als ‚Zeugen’-Ausrüstung betrachtet werden, allein wegen ihrer eingebauten Kamera, deren Bilder und Videos man auf Flickr und YouTube hochladen kann. Man stelle sich nur die taktischen Einsatzmöglichkeiten von Smartphones in Verbindung mit freiem Radio vor. Last not least, können wir bald auch die verlassenen UKW- und Mittelwellen-Frequenzen besetzen. Wir haben den Punkt noch nicht erreicht, und wer weiß, ob und wann der digitale Radio-Betrieb wirklich die Herrschaft übernimmt und was dann passieren wird. Aber es gibt noch ein großes offenes Spektrum zu entdecken, wenn die Technologien einmal vergessen sind. Tune in and see you there.

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