Der öffentliche Auftrag

Dagmar Gräfin Kerssenbrock

Alle Medien, die den Schutz von Art. 5 des Grundgesetzes genießen, haben die öffentliche Aufgabe zur Meinungsbildung in der Gesellschaft beizutragen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat darüber hinaus einen öffentlichen Auftrag. Der öffentliche Auftrag steht in § 11 des Rundfunkstaatsvertrags, und weist den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Aufgaben zur Sicherung freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu. Die allgemeine und entwicklungsoffene Beschreibung des öffentlichen Auftrags findet in den Folgeparagraphen eine programmliche Konkretisierung und damit einen statischen Rahmen. Die Rundfunkkommission der Länder möchte den öffentlichen Auftrag neu definieren, um im Rahmen des angestoßenen „Auftrag- und Strukturoptimierungsprozesses“ den Rundfunkbeitrag zu begrenzen.

Erste Überlegungen zu einem Auftrag, der seinen Schwerpunkt in Information, Bildung und Kultur haben soll, werden diskutiert und weisen – auch mit Blick auf alte medienpolitische Ideen -  auf eine Auftragsbeschränkung zur Reduzierung des Finanzbedarfs der Anstalten hin. Aus diesem Grund äußern sich ARD und ZDF mit Rückendeckung ihrer Aufsichtsgremien nicht zum Auftrag, weil es nicht um konkrete Programmreduzierungsangebote gehen kann und darf.  
Die Diskussion über den öffentlichen Auftrag unter finanziellen und wettbewerbsrechtlichen Aspekten führt von der Funktion des Auftrags weg, der eine Folge der Ausgestaltung von Art. 5 des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht ist: Der Gesetzgeber gewährleistet die Entfaltung der Rundfunkfreiheit, damit diese der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung dienen kann. Das „Wie“ ist u.a. der öffentliche Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der die Mängel und Defizite wirtschaftlich abhängiger Rundfunkanbieter auszugleichen sucht, damit eine freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung stattfinden kann – das Duale System.
Sinn und Zweck eines öffentlichen Auftrags ist die Sicherstellung freier Meinungsbildung, nicht die Sicherstellung von wirtschaftlichem Wettbewerb oder Einsparungen beim Rundfunkbeitrag.   In dieser allgemeinen Funktionsbeschreibung scheint der öffentliche Auftrag dynamisch und ausreichend entwicklungsoffen zu sein, um auf den schnellen medialen Wandel bei Nutzungsgewohnheiten oder inhaltlichen und technischen Veränderungen eingehen zu können. Denn die Funktion für die Meinungsbildung bleibt immer unberührt, ihr ordnet sich jede Konkretisierung des Auftrags unter.   Die Meinungsbildung findet beim Nutzer von Rundfunk statt und führt zu der Frage: Wie muß der öffentliche Auftrag lauten, damit der öffentlich-rechtliche Rundfunk es jedem Nutzer ermöglicht, eine eigene Meinung frei bilden zu können? Oder: Welche technischen und/oder inhaltlichen Entwicklungen gefährden eine freie Meinungsbildung beim Nutzer, auf die der öffentlich-rechtliche Rundfunk (durch den öffentlichen Auftrag verpflichtet) reagieren muß?  
Bedingungen für einen zeitgemäßen öffentlichen Auftrag:  
  • Der öffentliche Auftrag bedarf eines neuen Rundfunkbegriffs.
    Wenn Medienanbieter das mediale Nutzungsverhalten von Rezipienten ausnutzen wollen, um z.B. durch Personalisierung, Beeinflussung und/oder Abschöpfung von persönlichen Daten wirtschaftlichen Nutzen zu realisieren, dann ist der Ausgleichsgedanke aus dem Dualen System durch einen öffentlichen Auftrag auf all diese medialen Angebote zur Gewährleistung freier Meinungsbildung auszuweiten. Für einen derartigen Auftrag muß der heutige Rundfunkbegriff seine Fernseh- und Radiozentriertheit ebenso verlieren, wie seine künstliche Abgrenzung zu Telemedien. Der heutige Rundfunkbegriff sichert nicht publizistische Vielfalt oder dient umfassend der Meinungsfreiheit, sondern schafft wirtschaftliche Schutzräume für mediale Angebote wie soziale Netzwerke, die sich nicht einmal einer öffentlichen Aufgabe zur Meinungsbildung in der Gesellschaft verpflichtet fühlen. Der öffentliche Auftrag muß sich auf das „nicht-körperlich technisch Mögliche“ beziehen, um seine Funktion jederzeit, dem technischen Wandel angemessen, erfüllen zu können. Der gegenwärtige Rundfunkbegriff aus § 2 des Rundfunkstaatsvertrags ist durch die mediale Wirklichkeit überholt.
  • Der öffentliche Auftrag wird größer.
    Die quantitative Menge medialer Angebote war noch nie größer als heute. Aber Quantität sagt nichts über inhaltliche Qualität oder das Gebot der Vielfaltssicherung bei medialen Angeboten. Bilder auf Instagram, Videos auf YouTube, persönliche Wertungen und Meldungen auf Facebook und die scheinbar die Welt regierenden Schlagworte auf Twitter neben wirtschaftlich orientierten Hörfunk- und Fernsehangeboten sind ein wirkmächtiges, umfangreiches mediales Angebot ohne Garantie für inhaltliche Qualität und Vielfalt. Maßstab allein ist der wirtschaftliche Erfolg und die gesellschaftliche Belohnung durch Zustimmung, nicht die Unterscheidung von Tatsachen und Meinung, relevanten und banalen Informationen, wahren und falschen Behauptungen. Die öffentliche Aufgabe, zur Meinungsbildung in der Gesellschaft beizutragen, die alle Medien haben, um den Schutz von Art. 5 / Grundgesetz genießen zu können, wird vom Streben nach rein wirtschaftlichem Erfolg oft verdrängt.
    Die Ausgleichsfunktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks - das Duale System – ist zur Gewährleistung von Vielfaltssicherung auf alle inhaltlichen medialen Angebote auszudehnen.
  • Der öffentliche Auftrag erfordert Privilegien.
    Must-carry, Must-offer und Must-be-found sind unerläßliche Privilegien, die die Erfüllung der Funktion des öffentlichen Auftrags begleiten müssen, damit der inhaltliche Ausgleich für mediale Angebote ohne öffentlichen Auftrag tatsächlich durch Nutzer wahrgenommen werden kann. Öffentlich-rechtliche Angebote infolge des öffentlichen Auftrags müssen auf allen Ausspielwegen technisch und inhaltlich möglich sein. Der Auffindbarkeit, orientiert am konkreten Nutzerverhalten auf unterschiedlichen Ausspielwegen, kommt zur Funktionserfüllung eine entscheidende Rolle zu.
    Wer die ausgestaltenden Anforderungen des öffentlichen Auftrages erfüllt, soll einen Anspruch auf technische Ausspielung, inhaltliches Angebot an Nutzer und tatsächliche Wahrnehmung durch Hervorhebung und Platzierung haben, die sonst nur einem, dem öffentlichen Auftrag gesetzlich verpflichteten öffentlich-rechtlichen Rundfunk zugute käme.
  • Der öffentliche Auftrag erfordert eine stärkere Programmautonomie
    Der mediale Wandel ist zu schnell, als das der Gesetzgeber jemals ein zeitgemäßes Programm beauftragen könnte. Anzahl und Inhalte von Fernseh- und Hörfunkprogrammen zu fixieren, Telemedienangebote inhaltlich zu beschränken um wirtschaftlich zu regulieren, bindet Ressourcen, beschränkt die publizistische Vielfalt und unterstützt nicht die Meinungsbildungsfunktion eines öffentlichen Auftrags heute und in Zukunft.
    Wenn gegenwärtig eine Art Basisversorgung durch die gesetzliche Beauftragung des „Ersten“ und „Zweiten“ Programms neben den „Dritten“ Programmen in den Ländern im Gespräch ist, und alle anderen Programmentscheidung den öffentlich-rechtlichen Sendern in der Diskussion mit ihren Gremien überlassen werden sollen, dann ist das der richtige Ansatz. Der öffentliche Auftrag muß mediale Mindestangebote festlegen und ansonsten einen Qualitätsrahmen fixieren, der durch die Rundfunkanstalten selbst flexibel programmlich auszufüllen ist.
  • Der öffentliche Auftrag zwingt zum Datenschutz
    Es muß mediale Angebote geben, die nicht manipulativ personalisieren und/oder mit persönlichen Daten wirtschaftliche Vorteile generieren. Vor dem Hintergrund des EuGH-Urteils zu Fan-Pages auf Facebook sollten öffentlich-rechtliche Programmangebote keine Unterstützungsfunktion für Geschäftsmodelle mit persönlichen Daten haben. Gleichzeitig muß der Freiraum bestehen, eigene Plattformen und Netzwerke aufzubauen, die dem Nutzungsverhalten von Rezipienten entsprechen und Datenschutz garantieren.
  • Der öffentliche Auftrag setzt einer datenschutzkonformen Personalisierung Grenzen.
    Mediale Angebote versuchen durch Personalisierung erfolgreich zu sein. Aber Personalisierung engt die mögliche Vielfalt ein und ersetzt häufig die Einordnungsfunktion des Journalisten durch Algorithmen, deren Zwecke intransparent sind. Dabei ist Personalisierung auch nachhaltiger als eine Suchmaschine, in die man wenigstens die Suchbegriffe nach individuellen Vorstellungen eingibt.
  • Der öffentliche Auftrag fordert Qualität und Maßstab.
    Wenn der öffentliche Auftrag eine Ausgleichsfunktion für mediale Angebote beinhaltet, die im wirtschaftlichen Wettbewerb stehen, dann müssen öffentlich-rechtliche Angebote einem Mehr an inhaltlicher Qualität und Vielfalt genügen. Sie müssen auf allen Ausspielwegen Maßstab für Qualitätsjournalismus, Information, Bildung und Unterhaltung sein. Die Glaubwürdigkeit darf weder der Schnelligkeit noch der Vorläufigkeit geopfert werden.
  • Der öffentliche Auftrag fordert die Erreichbarkeit aller.
    Die Sicherstellung freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung darf niemanden in der Gesellschaft ausschließen und muß alle erreichen. Das Angebot von Mehrheiten- und Minderheitenprogrammen bleibt richtig, ebenso wie der Grundsatz, daß mediale Nutzer im Rahmen ihrer Nutzungsgewohnheiten abgeholt werden müssen. Die Digitalisierung hat nur die Anzahl der verschiedenen medialen Nutzerräume deutlich erhöht.
  Der in § 11 des Rundfunkstaatsvertrags formulierte öffentliche Auftrag ist, auch mit Blick auf die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, uneingeschränkt richtig und entwicklungsoffen.

Das Dienen einer freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung steht im Zentrum und wird durch allgemeine Anforderungen an Inhalte und Qualität ausgestaltet. § 11 / Rundfunkstaatsvertrag formuliert einen entwicklungsoffenen Auftrag, der nicht von technischen Veränderungen, medialen Angeboten oder Nutzerverhalten bestimmt wird. Eine Beschränkung der publizistischen Vielfalt durch wirtschaftliche Regulierung fehlt zurecht.  

Anders die §§ 11a – 11g des Rundfunkstaatsvertrags, die die medialen Angebote der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Verbindung mit den Begriffsbestimmungen aus § 2 konkretisieren und mittels einer abschließenden Aufzählung beschränken, ja sogar auf definierte Ausspielwege und Erscheinungsweisen (Presseähnlichkeit) festlegen. Das widerspricht den beschriebenen Rahmenbedingungen für einen zeitgemäßen öffentlichen Auftrag, und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten werden im Wandel medialer Erscheinungsformen und Übertragungswege die notwendigen inhaltlichen Angebote nicht machen können, weil sie statisch an die konkreten Angebotsaufzählungen im Rundfunkstaatsvertrag gebunden sind. Bei neuen Medienangeboten versagt mehr oder weniger ihre Ausgleichsfunktion für die freie Meinungsbildung in der Gesellschaft. Wirtschaftliche Schutzzäune zur Beschränkung der medialen Angebote öffentlich-rechtlicher Anstalten dienen nicht dem Rezipienten und seiner Meinungsbildung, sie verhindern nur die Erreichbarkeit aller mit vielfaltssichernden Angeboten und den publizistischen Wettbewerb.

Der öffentliche Auftrag, Qualitätsangebote in einem ständig wachsenden Mediendschungel anzubieten, in dem Tatsachen, Wahrheiten, Erkennen und „Finden können“ zwischen gesellschaftlicher Anerkennung und kommunikativer Isolation versteckt sind, wird immer wichtiger und umfangreicher. Wer ihn auf Information, Bildung und Kultur beschränken will, verkennt seine dauerhafte und langfristige Bedeutung für die Meinungsbildung auf und über alle medialen Angebote.   Ein weiterentwickelter öffentlicher Auftrag erhöht nicht zwingend den Rundfunkbeitrag, denn zurückgegebene Freiheit eröffnet Kreativität, schafft Neues und läßt Altes verschwinden – weil es der Sicherung der Meinungsbildung dient. Budgetierung und Indexierung sind dabei geeignete Instrumente der Finanzierung, die gleichzeitig Unabhängigkeit von permanenten politischen Machbarkeitsüberlegungen versprechen.